Gastbeitrag von Andreas Stephan: Was ich mir von meinen Eltern gewünscht hätte

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Gastbeitrag Andreas Stephan – Das hätte ich mir von meinen Eltern gewünscht

Es hat eine sehr, sehr lange Zeit gedauert, bis ich mir das von der Seele schreiben und es so zu Papier bringen konnte. Das Wissen und das Verstehen, was es heißt, Kriegsenkel zu sein, haben mir dabei sehr geholfen, sagt Andreas Stephan.

Andreas hat den Schreibaufruf zu meiner Blogparade „Was hättest du dir von deinen Eltern gewünscht?“ auf der Facebook-Seite des Kriegsenkel e. V. gesehen.

Seine erschütternde Geschichte zu #wunschanmeineeltern erreicht mich per E-Mail. Andreas hat keinen Blog und keine Website, möchte aber trotzdem mitmachen. Zwischen uns ergibt sich ein Elektropost-Pingpong und wir beschließen, seinen Text als Gastbeitrag auf meinem Blog zu veröffentlichen.

Später schreibt Andreas mir: Ich stelle fest, dass mich das Thema doch mehr aufwühlt als ich gedacht habe. Als hätte meine Mail an Dich eine Tür geöffnet, die ich noch gar nicht kannte. So viele verschüttete Erinnerungen, Gedanken und Gefühle. Aber ich bleibe am Ball …

In diesem Artikel, lädt Andreas uns ein, seiner erschütternden Familiengeschichte zu folgen. Sein Text und seine Art zu schreiben, stehen für sich. Hier wird sichtbar, welch gigantische Folgen unser Verhalten – Handeln wie Unterlassen – in traumatischen Situationen haben kann:

Meine Familie

Alfred, mein Vater, Jahrgang 1926. Meine Mutter, Edeltraud, Jahrgang 1930. Beide aus Breslau.

Mein Vater im Krieg. Seine drei Brüder fallen.

Mutter im Flüchtlingstreck. Mit dem Rest der Familie nach Norddeutschland.

Irgendwie schafft es mein Vater auch dorthin. Was genau er erlebt hat, weiß ich nicht. Italien, Frankreich … Ein Querschläger schlägt ihm die Zähne im Unterkiefer aus. In den 1990er Jahren eitern ihm Granatsplitter aus der Schulter …

Anfang der 1950er ziehen meine Eltern nach NRW. Mein Bruder Volker wird geboren. Ich folge acht Jahre später.

Behütete Kindheit.

Gastartikel Andreas Stephan. Ein Familienfoto mit seinen Eltern und seinen Bruder aus den 1960er Jahren.
Ich bin der kleine Stöpsel. Den Stoffhund, den meine Mutter in der Hand hat, gibt es immer noch. 

Der Abend, der alles ändert

Sonntag. Zweite Folge des „Traumschiffs“, zwei Tage nach meinem 18. Geburtstag. Das Telefon klingelt.

Mein Vater sagt: „Zieh dich an.“

Im Treppenhaus, auf dem Weg zum Auto, sagt er zu mir: „Die Vermieterin deines Bruders hat angerufen. Er hängt am Baum und sie bekommt ihn nicht los.“

Eine halbe Stunde im Auto. Schweigend legt der Vater an jeder Ampel die Hand auf meinen Oberschenkel. Als suche er Schutz, Hilfe und Trost. Ich bin wie gelähmt und gefühllos.

Wir kommen an. Krankenwagen- und Polizei-Lichtgeblitze.

Mein Kreislauf macht sich bemerkbar. Ich realisiere langsam, dass etwas passiert sein muss.

Sie lassen meinen Vater nicht weiter. Er kommt zurück und trommelt verzweifelt mit seinen Fäusten auf das Autodach.

Ein Polizist in Zivil fährt uns in unserem Auto nach Hause.

Das Mietshaus ist hell erleuchtet. Meine Mutter schreit in ihrem Schmerz das Haus zusammen. Sie hatte mitbekommen, wer angerufen hat und zurückgerufen …

Ein Arzt ist auch schon da. Wir betreten das Wohnzimmer.

Meine Mutter schaut uns flehentlich an. Ihre Augen bitten: Sagt, dass es nicht wahr ist!!!

STILLE.

Nicht mein Vater, sondern ich gehe zu ihr hin und halte sie im Arm. Sie schreit, wie nur eine Mutter schreien kann, wenn sie ein Kind verloren hat. Warum nur in meinen Armen? Es scheint, als stünde mein Vater regungslos daneben.

Da war sie: die Verantwortlichkeit. Im Nachhinein habe ich es jetzt verstanden:

Warum …?

  • … hat mein Vater MICH mitgenommen und meine Mutter im Ungewissen und alleine gelassen?
  • … hat ER meine Mutter nicht in den Arm genommen?
  • … habe ICH sie gehalten?
  • … schreit sie in MEINEN Armen?

Wunsch an meine Eltern. Das wäre besser gewesen.

Klar, der erste Gedanke ist, was wäre in dieser speziellen Situation wünschenswert für mich gewesen:

  • Dass mein Vater uns nach dem Anruf zusammengerufen hätte.
  • Dass wir als Familie – Vater, Mutter, ich als Bruder – zusammen zur Unglücksstelle gefahren wären.
  • Dass ich bei der Beerdigung meines Bruders dabei gewesen wäre. 

Aber im Nachhinein hätte ich mir lieber gewünscht, dass meine Mutter den Tod meines Bruders nicht wie eine Fackel vor sich her getragen hätte.

Ich hätte mir gewünscht ihren Satz nie gehört zu haben: „Junge, vergiss es nie! Denk daran, was geschehen ist und welches Schicksal wir zu tragen haben!“

Ich hätte mir gewünscht, dass mein Vater sie dabei nicht so vehement unterstützt hätte.

Ich hätte mir keine Erpressungsversuche gewünscht, wenn ich mal nicht so gespurt habe, wie gewünscht.

Schon gar nicht Sprüche wie: „Junge, das kannst du uns doch nicht antun!“

Mein Weg

Jahre vergehen. Meine Eltern kommen ins Pflegeheim – Demenz und Demenz Typ Alzheimer.

10 Jahre später kann ich nach einer guten Gesprächstherapie den Weg für mich finden:

Verstehen, verzeihen. Auch MICH verstehen und MIR verzeihen. Keine Vorwürfe mehr, die ich mir machte, weil ich in vielen Situationen im Heim nicht so reagieren konnte, wie ich es im Nachhinein gerne getan hätte. Anders getan hätte.

Ich habe es nie gelernt. Von wem hätte ich es lernen sollen? Traumatisierte Eltern. Der Tod meines Bruders.

Es hat etwas gedauert, bis mir klar wurde, was ich mir wann gewünscht hätte.

Aber nun, nach gut 40 Jahren, habe ich Frieden schließen können. ICH habe MEINEN Frieden gefunden. Ich kann jetzt liebevoll an meine Eltern und meinen Bruder denken. Ohne Gram.

Über den Autor

Andreas Stephan, Jahrgang 1963, ist ursprünglich gelernter Zahntechniker und kam in den 1990er Jahren in die IT. Kurze Zeit nach dem Tod seines Bruders fing er an, hobbymäßig Theater zu spielen. Boulevard Theater ist seine Leidenschaft. Er liebt es, Leute zum Lachen zu bringen und sie für eine Weile in eine „heile Welt“ zu entführen.

Andreas Stephan auf seiner Lieblingsinsel Kreta
Andreas auf seiner Lieblingsinsel Kreta

Er fragte sich lange Zeit: „Warum fühle ich mich immer so für alles verantwortlich – vor allem für das Wohl meiner Eltern? Seine Suche nach Antworten führte ihn schließlich zur Kriegsenkel-Thematik.

Andreas hat keinen Blog und keine Website. Daher erscheint sein Beitrag zu meiner Blogparade als Gastartikel.

Danke, lieber Andreas, für Deine Geschichte. Und für Deinen Mut, sie mit uns zu teilen. Ich wünschte, mehr Menschen täten das. Chapeau!

Mein Aufruf zum Thema #wunschanmeineeltern ist eine von über 100 Blogparaden im großen Blogparaden-Sommer 2024 der The Content Society meiner Blog-Mentorin Judith Peters. Entstanden sind mehr als 300 spannende Blogartikel zu den unterschiedlichsten Themen. Da gibt‘s viel zu entdecken. Schwöre. Schnuffel doch mal rein.

Du willst mehr zur Kriegsenkel-Thematik lesen? Hier ist mein Buch:
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Ein guter Einstieg ins Thema Ahnentrauma. Du brauchst keine Vorkenntnisse.
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„Wütend, witzig, weise.“
(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)

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