Was sind Kriegsenkel? Kurz und knapp erklärt.

Veröffentlicht am Kategorisiert in Kriegsenkel & Ahnentrauma
Birgit Elke Ising dreijährig

Der Begriff „Kriegsenkel“ und ihr (oftmals durchaus erschreckend stereotypes) Verhalten kurz erklärt. Für deinen ersten Überblick und Schnelleinstieg in ein sehr komplexes Thema.

In diesem kurzen Blogartikel reiße ich das Thema an, gebe jedoch zu bedenken, dass es deutlich vielschichtiger ist.

Für weitergehende Informationen empfehle ich dir meine anderen Blogartikel in der Kategorie Kriegsenkel & Ahnentrauma und mein Buch „Eingefroren in der Zeit“.

Was sind Kriegsenkel?

Kriegsenkel werden meist definiert durch Ihren Geburtsjahrgang zwischen 1960 und 1975. Sie gehören zu den geburtenstarken Jahrgängen, den Babyboomern.

Richtiger ist jedoch: Sie sind die Kinder der Kriegskinder. Sie sind die Kinder der Kinder und Jugendlichen des Zweiten Weltkrieges und des NS-Systems.

Die Vorfahren in ihren Herkunftsfamilien haben Kriegserfahrungen, haben Bombenangriffe, körperliche Gewalt, Trennung und den Tod von geliebten Menschen erfahren. Viele verloren ihre Heimat – ihr Zuhause wurde zerbombt, verbrannt oder ihnen weggenommen. Sie flüchteten oder wurden vertrieben. Ihre Väter und Großväter brandschatzten, stahlen und plünderten. Sie vergewaltigten, töteten oder lynchten andere Menschen. Sie waren Täter, Mitläufer oder ahnungslose Opfer.

Anhand der vielen Heldengeschichten, die in deutschen Familien über den Krieg erzählt werden, müssten wir ein Volk von Widerstandskämpfern sein. Das das nicht wahr sein kann, wissen wir alle.

Meine Vorfahren lebten in der Zerrissenheit zwischen willigem Tätertum oder feldbestimmten und wegschauendem oder unschuldigem Opfersein.

Birgit Elke Ising, „Eingefroren in der Zeit“

Woran leiden Kriegsenkel?

Kriegsenkel leiden unter einem Trauma.

Sie sind indirekt traumatisiert von etwas, das nicht sie, sondern ihre Vorfahren erlebt oder erlitten haben und tragen dessen Folgen als diffuse, oft kaum zu benennde, Last durchs Leben.

Kriegsenkel leiden unter einem Krieg, den sie selbst nicht erlebt haben. Ihre Probleme lassen sich zurückführen auf die unverarbeiteten Kriegserlebnisse ihrer Eltern und Großeltern.

Wissen Kriegsenkel eigentlich, dass sie es sind?

Viele Menschen der oben genannten Geburtsjahrgänge tragen diffuse Schattengefühle mit sich herum. Diese Gefühle bestimmen ihr Handeln, aber sie verstehen sie nicht. Kriegsenkel fühlen oft eine tiefsitzende Verunsicherung und sagen: „Ich weiß gar nicht, wo das alles herkommt.“

Sie haben keine Erklärung für ihr eigenes herausforderndes Verhalten oder ihre Selbstbeschränkung im Leben.

Es erscheint ihnen absurd, sich vorzustellen, diese Gefühle könnten von ihren Eltern stammen, die ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeitet haben.

Es ist belastend und ja, fast abwegig für sie, den Gedanken zuzulassen, die Schrecken der Vergangenheit könnten noch heute in ihr Leben wirken und es erschweren.

Was hilft es, zu wissen, dass ich Kriegsenkel:in bin?

Für viele Kriegsenkel ist es eine große Entlastung, zu wissen, dass sie mit ihrem Leid nicht alleine sind. Zu erleben, dass es viele andere gibt, denen es ähnlich geht, ist für sie schon der erste Schritt zu mehr innerer Freiheit.

Sie sagen: „Seit ich weiß, dass ich ein:e Kriegsenkel:in bin, fühle mich nicht mehr wie eine Außerirdische, nicht mehr wie auf dem komplett falschen Dampfer. Ich kann den Symptomen, an denen ich immer wieder leide, endlich einen Namen geben und kann ihre Herkunft verstehen.“

Sie können sich versöhnen mit ihren Eltern, oft aber vor allem mit sich selbst. Und sie beginnen, ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen.

Sie lösen die angezogene Handbremse ihres Lebens, die sie oft jahrzehntelang an so vielem hinderte. Statt bang nach ihren Eltern und deren Wohl zu schielen, führen sie ein selbständiges, unabhängiges Leben in innerer Freiheit. Viele fühlen sich nicht „geheilt“, aber es geht ihnen besser.

Und auch wenn es absurd klingt: Auch für mich lebt es sich unbeschwerter und beschwingter mit der Selbstbezeichnung „Ich bin eine Kriegsenkelin“.

Was sind typische Kriegsenkel-Symtome?

Allein, wenn mir das Wort „Kriegsenkel“ begegnet, tut sich eine ganze Welt auf: immer wieder die gleichen Symptome, von denen Betroffene in fast stereotyper Weise berichten. Oftmals ähnliche Gefühle, ähnliches Verhalten. Kriegsenkel:innen haben oft Beziehungsprobleme mit nahestehenden Menschen, ein Gefühl von Rastlosigkeit, Andersartigkeit und Einsamkeit, sie kennen keine Heimat und bleiben im Beruf oft weit unter ihren eigenen Möglichkeiten.

Weiterhin werden oft genannt:

  • Mit der eigenen Identität hadern
  • Sich für die Gefühle der Anderen verantwortlich fühlen
  • Sich nicht zugehörig fühlen
  • Kein Gefühl von Zuhause kennen
  • Das Gefühl von Sicherheit fehlt
  • Mangel an Geborgenheit
  • Das Gefühl, es sei nicht genug für alle da
  • Immer perfekt sein wollen und dadurch latent überarbeitet sein
  • Kein Bezug zu den eigenen Bedürfnissen
  • Probleme mit abweisenden Eltern

Eine ausführlichere Beschreibung von nahezu typischem Verhalten und Kriegsenkel Trauma Symptomen findest du in meinem Blogartikel Kriegsenkel Trauma: Hast du diese 10 Symptome, bist du wahrscheinlich betroffen.

Welche negativen Glaubenssätze haben Kriegsenkel?

Wenn du ein paar Beispiele für negative Glaubenssätze lesen möchtet, die viele Kriegsenkel mit sich herumschleppen, dann schau mal in diesen Blogartikel von mir: „Alte Bekannte: Die Liste der 200 fiesesten negativen Glaubenssätze“.

Kriegstrauma kann vererbt werden

Jetzt sagst du vielleicht: „Ja ich habe diese Probleme und ich kenne diese Sätze! Aber was bitteschön sollen die denn mit dem Krieg zu tun haben? Das ist doch Wahnsinn! Ich habe ihn ja überhaupt nicht erlebt!“

Inzwischen wissen wir, dass unverarbeitete Traumata von Generation zu Generation vererbt und weitergegeben werden können. Epigenetisch und über das Verhalten unserer Erziehungspersonen, das wir als Kinder der Traumatisierten in unseren Herkunftsfamilien als „absolut normal“ kennen- und einschätzen gelernt haben.

Unsere Eltern haben sich verhalten wie sie es von ihren Eltern gelernt hatten. Und die hatten oft noch den ersten Weltkrieg in den Knochen. Es ging ums Überleben, ums Funktionieren. Gefühle waren dabei hinderlich und oftmals lebensgefährlich. Beim Fliegeralarm mussten sie schnell sein. Da konnten sie nicht noch lange überlegen, ob sie jetzt Angst hatten oder nicht. Die mussten sie runterschlucken, ihre Klamotten packen und voran machen.

Nach dem Krieg herrschte in vielen Familien das große Schweigen. Es wurde nicht geredet über die gesehenen Schrecken, das sich wegducken, über die Taten der Väter und Großväter im Krieg. Oft gab es stereotype, immer mit den gleichen Worten erzählte Geschichten. Oder solche über Kameradschaft und Heldentaten. Viele Kriegsenkel berichten, dass ihre Eltern und Großeltern in diesen Geschichten jede Gefühlsbeschreibung vermissen ließen. Die Geschichten ähnelten eher Tatsachenberichten. Eltern und Großeltern wollten oder konnten sich nicht erinnern, an den großen Schmerz, die Angst, die Scham, die Schuld. Sie deckten sie zu mit einem großen Grauen Mantel des Schweigens.

In dieser Atmosphäre haben sich Kriegsenkel:innen als Kinder (um ihr eigenes Überleben zu sichern) ihre Weltsicht und ihre Glaubenssätze gebastelt. Positive wie negative. Und vor allem die negativen sind es, die sie später im Erwachsenenleben an so vielem hindern.

Trauma kann sich also, sofern es nicht offen gelegt, angeschaut, besprochen und integriert wird von Generation zu Generation „vererben“. So werden Gefühlsmuster unausgesprochen weitergegeben.

Es heißt, das sicherste Mittel ein Trauma, an die nächste Generation weiterzugeben sei, darüber zu schweigen.

Welche Aufgaben gibt es für Kriegsenkel in unseren Familien?

Je mehr der oben beschriebenen Symptomen auf dich zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass Du Kriegsenkel:in bist.

Es ist wichtig, dass Kriegsenkel ihre emotionale Vergangenheitsbewältigung in die Hand nehmen.

Wenn wir verhindern wollen, dass unsere Kinder (Achtung: es gibt bereits Menschen, die sich als Kriegsurenkel wahrnehmen!) und Enkelkinder nicht auch noch unter den Kriegsfolgen leiden und das unverarbeitete Trauma unserer Vorfahren weitertragen, sollten wir uns in unseren Familien gut umsehen.

Um das Trauma zu durchbrechen ist es höchst empfehlenswert, sich mit den Erlebnissen der eigenen Familie im Krieg auseinanderzusetzen und darüber zu sprechen.

Ich bin sicher, da gibt es viel Schweres zu entdecken, das sortiert gehört. Denn nicht jeder Schmerz, den wir als Kriegsenkel:innen spüren, ist auch unser eigener. Vieles davon gehört unseren Vorfahren.

Welche Aufgaben gibt es für Kriegsenkel bei der Arbeit?

Auch vor dem Business-Umfeld machen Kriegsenkel-Gefühle nicht Halt.

Despotische Führungskräfte, von gefühlskalten und strengen Eltern erzogen, treiben ihr narzisstisches Unwesen nicht nur im Bankensektor, über den ich hier berichte. Sie führen mit Angst und Schrecken. Sie geben das Zuhause erlernte an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiter.

Diese wiederum bleiben in diesem Klima, das sie ebenfalls von zuhause kennen, oft weit unter ihren Möglichkeiten zurück. Sie sind brav, fügen sich und halten die Klappe. Sie hecheln nach der Anerkennung ihrer Chef:innen so wie früher als Kind nach der ihrer Eltern.

Ich bin sicher, dass das Aufräumen unserer Familiengeschichten auch dazu führen wird, dies transparent zu machen, es nicht mehr zu dulden und schließlich zu verändern.

Welche Aufgaben gibt es für Kriegsenkel in unserer Gesellschaft?

Das Kriegsenkel-Thema reicht in seiner Relevanz weit über die Grenzen der eigenen Familie hinaus. Es ist von gesellschaftspolitischer und friedensstiftender Wichtigkeit dass wir uns dessen auf einer breiteren Ebene bewusst werden. Wir müssen mehr darüber reden, denn es reicht in viele Bereiche unseres täglichen Lebens hinein.

In meinem Blogartikel „Prognose für 2023-2025: Kriegsenkel-Gefühle bedrohen unsere Gesellschaft“ beschreibe ich das Bedrohungspotenzial, dass das Gefühl, zu den Abgehängten und den stets zu kurz Kommenden zu gehören auf unsere Demokratie hat. Dort zeige ich ebenfalls auf, was wir besser machen können.

Und wie gehen wir als Deutsche eigentlich mit den vielen vor Krieg und Gewalt geflüchteten Menschen um, die schon seit einigen Jahren in unser Land kommen?

Wir wissen, dass wir es besser machen können, als wir es selbst erlebt haben. Aber tun wir es?

Nachsatz: Warum war das Kriegsenkel-Thema eigentlich so lange tabu?

Deutschland als Täterland hat in der NS-Zeit viel Leid über die Welt und die Menschen gebracht. Gewalt, Zerstörung, die unvorstellbare Vernichtungsmaschinerie des Holocaust. Wir haben eine Spur der Verwüstung und unfassbaren Leides gelegt.

Wir konnten es vor diesem Hintergrund nicht wagen, zu sagen, auch wir hätten gelitten. Ein No-Go!

Es galt als Tabu, war ungeheurlich, das im Krieg erlittene Leid der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg auch nur zu erwähnen. Allein dies stand bis Ende der 1990er Jahre sofort im Verdacht, das von den Deutschen verursachte Leid neben das eigene stellen zu wollen – um damit das von den Deutschen verursachte Leid zu relativieren.

Erst mit den Büchern von Sabine Bode „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ (2004) und „Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation“ (2009) kam ein Bewusstsein für den erlittenen traumatischen Schmerz der Kriegskinder und Kriegsenkel auf, der durchaus benannt und erstmals beschrieben werden durfte.

Birgit Ising mit Notebook
Wer schreibt hier eigentlich?

Hi, ich bin Birgit Elke Ising. Ex-Bank Managerin, Coachin, Autorin, Speakerin und (improvisierende) Schauspielerin. Ich bin Expertin für Transformationsunterstützung. Mit kreativen Coaching-, Theater- und Schreib-Techniken helfe ich dir aus der Schwere ins Handeln.
Mehr über mich erfährst du hier.

Du willst mehr lesen? Hier ist mein Buch:
Buch Eingefroren in der Zeit von Birgit Elke Ising

Eingefroren in der Zeit.
Ein guter Einstieg ins Thema Ahnentrauma. Du brauchst keine Vorkenntnisse.
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Deep Shit, mit Humor und Leichtigkeit erzählt.

„Wütend, witzig, weise.“
(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)

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13 Kommentare

  1. Hallo!
    Eine Frage: Was ist wenn die Eltern Kriegskinder waren, einen aber erst sehr spät bekommen haben? Meine Eltern sind vor und während dem Krieg geboren, aber ich erst in den 80ern. Trotzdem sind einige Glaubenssätze ganz tief in mir verwurzelt. Ich hatte es sicher besser als meine Geschwister (was zum Beispiel das Zeigen von Liebe angeht), aber trotzdem finde ich mich in Vielem hier wieder. Ich arbeite jetzt sehr viel daran bestimmte Dinge aufzulösen bzw. zu integrieren (auch mit professioneller Hilfe), aber es ist ein langer Weg.

    1. Liebe Michaela,
      aus meiner Sicht sind die Geburtsjahrgänge der Eltern für die eigene Einordnung als Kriegsenkelin entscheidend. Wenn Deine Eltern als Kriegskinder schlimme Dinge selbst erlebt haben oder Zeugen von schrecklichen Ereignissen waren und diese nicht verarbeitet haben, kannst Du (und das sage ich, ohne nähere Kenntnis der familiären Sache- und Themenlage) davon ausgehen, dass Du ebenfalls von Kriegsenkel-Symptomen und Thematiken betroffen sein könntest.
      Die Einteilung der Kriegsenkel-Generation in die Geburtsjahrgänge von 1960-1975 dient nur der groben Orientierung und kann nie alle familiären Konstellationen abdecken.
      Ich wünsche Dir viele Erkenntnisse und gutes Gelingen beim Aufdecken und integrieren. Verlassen wird „es“ uns vermutlich nie, umso wichtiger ist es, mutig darüber zu reden und das Schweigen zu brechen.
      Herzliche Grüße, Birgit

  2. Liebe Birgit, vielen Dank für den spannenden Artikel. Mir war das Thema schon bewusst, meine Therapeutin hatte mir damals das Buch empfohlen, und ich erkenne mich in deinem Text natürlich auch in ganz vielen Punkten wieder. Du hast eine wunderbare Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen, und wie du auch empfiehlst, hatte ich glücklicherweise die Möglichkeit, mit meiner Mutter und früher auch mit meinen Großeltern (die aber wenig erzählen wollten) über den Krieg zu sprechen.
    Für meine Mutter ist es immer noch ein Albtraum und kommt angesichts der aktuellen Situation wieder hoch.
    Danke für den Artikel, er ist so wichtig für die Erinnerung!

    1. Liebe Ulrike, herzlichen Dank für Deinen Kommentar, der mich sehr in meiner Arbeit bestärkt. Ich freue mich toootaaal darüber. Schön, dass Du mit Deiner Mutter und Deinen Großeltern über den Krieg reden konntest. Sprechen ist sooooo wichtig und so heilsam. Herzliche Grüße, Birgit

  3. Ich liebe es, wie du schreibst. Mir war nicht bewusst, dass ich als Jahrgang 75 noch dazugehöre und tatsächlich erkenne ich mich in den Symptomen teilweise wieder. Mega spannendes Thema! Und toll geschrieben – wie immer.

    1. Wow, liebe Susanne, herzlichen Dank. Ja, auch wenn unsere Eltern zum Ende des Krieges noch sehr klein waren, so ist der viel gesagte Satz „Ach, die haben das alles doch gar nicht mitgekriegt. Die waren viel zu klein.“ schlicht falsch. Ich danke Dir für Dein Feedback, dass mich sehr in meiner Arbeit bestärkt. Liebe Grüße, Birgit

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