Ich bin Schreiberin. Schreiben hilft mir (fast) immer. Ich schreibe Morgenseiten, Texte, Poesie, arbeite an Büchern. Immer wieder überrascht mich der Prozess. Immer wieder finde ich dabei neue Sichtweisen, Erkenntnisse ungeahnte Switches und Wendungen. Am besten ist es, wenn nicht ICH es bin, die schreibt, sondern wenn ES sich magisch wie von selbst schreibt – und ich nur zuhören und mitschreiben muss. Das liebe ich.
Aber es gibt auch Situationen, in denen Nichtschreiben die bessere Wahl ist.
Und zwar dann:
Wenn du zu viel vom Schreiben willst
Ich kenne es aus dem Buch-Schreibe-Prozess. Das eine Kapitel, der eine Absatz, der eine Artikel. Der MUSS (!) heute raus. Weil ich will, weil die Zeit, die Deadline drängt. Weil, weil, weil. Dann sitze ich da und starre – aufs weiße Blatt, den leeren Bildschirm.
Aber Schreiben ist ein kreativer, ein fließender, im Detail fast absichtsloser Prozess. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in einer solchen Situation viel besser ist, loszulassen, mir meine Jacke anzuziehen und um den Block zu laufen, schwimmen zu gehen, mich mit einer Freundin zum Kaffee zu treffen. Denn ich weiß inzwischen: Mein kreativer Autopilot läuft weiter mit – auch wenn ich gerade nicht schreibe. Mein Text, mein Buch, mein Gedicht wirkt und wächst unterbewusst und wird sich zeigen. Buchstabengewirr braucht Schreib-Zeit, aber auch Wirk-, Nachwirk- und Kraftsammel-Zeit.
Ich weiß: Nichtschreiben gehört zum Schreiben wie Nichtblühen zum Blühen und die zündende Idee habe ich selten beim Grübeln am Schreibtisch, sondern meist im Auto an der Ampel …
Wenn du deinen „Shitty first draft“ fertig hast
Der berühmte Horror-Autor Stephen King und die Schriftstellerin Anne Lamott empfehlen „Shitty First Drafts“ – grottenschlechte, furchtbare, fiese erste Entwürfe.
Ich bin großer Fan vom „immer hinten dran schreiben, nicht nochmal lesen und dann ruhen lassen“, wie ich es von meiner ersten Lektorin Monika Stolina gelernt habe. Das bringt mich beim Schreiben voran, hält meine inneren Kritiker im Zaum und hilft mir gegen Zweifel, Aufgeben und das Herumgedengel an (noch) besseren (haha!) Formulierungen. Und vor allem: gegen Selbstzensur.
Zunächst einmal geht es darum, Material zu haben, mit dem ich später, viel später, weiterarbeiten kann.
Und wenn ich damit – meinen ersten shitty Entwurf – fertig bin, egal ob es ein Buch oder ein anderer Text ist, dann lass ich ihn eine zeitlang in Ruhe. Der Draft meines ersten Buches durfte ausgedruckt sechs Wochen (!) lang in einem schönen Kästchen schlafen, bevor ich ihn in einem Rutsch das erste Mal gelesen habe. Erst danach hab ich mich ans Überarbeiten gemacht.
Mein Tipp: Pfoten weg vom ersten Entwurf. Sacken lassen, liegen lassen. NICHT DARAN HERUMSCHREIBEN! Später, in einer separaten Überarbeitungsphase, in einem Schwung durchlesen, korrigieren, ergänzen.
Und dabei denken: Wow! Hab ich das geschrieben? – Danke, Anti-Selbstzensur.
Wenn dich dein Schreiben überwältigt
Lesen berührt. Im besten Fall. Wenn es mich hin- und her schleudert. Wenn ein Text zarte Töne anklingen lässt, Bilder in meinem Herz und Hirn erzeugt, wenn er mich zum Lachen bringt, das mir gleich wieder im Hals stecken bleibt, weil ich zu Tränen gerührt bin. Wenn er etwas bewegt, indem er mich bewegt. Emotional. Das ist für mich ein guter Text!
Aber wenn wir über schwere Momente, schmerzhafte, ja traumatische Erlebnisse aus unserem Leben oder dem von anderen schreiben, kann es sein, dass es uns aus der Bahn schleudert. Es ist möglich, dass uns das so tief in den Schmerz zieht, dass es uns triggert, überwältigt, retraumatisiert. Zwar gilt Schreiben als eine der Bewältigungsstrategien nach Trauma-Erlebnissen, doch sollten wir uns nur solchen Themen schreibend widmen, bei denen wir in der Lage sind, sie aus einer gewissen zeitlichen oder thematischen Distanz (wie von oben) zu betrachten.
Mein Tipp: Pass gut auf dich auf, wenn du über schwere Dinge schreiben willst. Mach dir klar, dass du das Thems, die Teife und das Tempo selbst bestimmen kannst.
Wenn du Anzeichen von Überwältigung wahrnimmst oder befürchtest, emotional in etwas hineinzufallen, aus dem du nicht allein wieder herausfindest, ist es keine gute Idee, den Schreibweg allein zu gehen.
Mein Tipp: Such dir Profis, die dich dabei begleiten. Mit therapeutischem Schreiben oder in einem Coaching zum emotionalen Schreiben, wie es beispielsweise Susanne Barth in ihrem Schreibkursen anbietet.
Beziehungs-Schreib: Keine E-Mails, SMS, WhattsApp & Co. …
Wie schnell schreibt sich eine wütende, enttäuschte, gerechtigkeitsgekränkte, weinerliche, anklagende oder um Klärung bittende Mail! Wie schnell hauen wir hochemotionales Zeug in elektronische Botschaften und Briefe, die andere überfallen, vor den Kopf stoßen, abfrühstücken (manchmal sogar manipulieren sollen) in Situationen, in denen wir selbst „nicht ganz klar“ im Kopf sind – und bereuen dann unser Geschreib? Denn es ist manifestiert, dokumentiert und lässt sich nicht mehr zurücknehmen.
Mein Tipp: Aufschreiben, gerne. Seele und Geist leeren und klären. Aber auf alle Fälle: Finger weg vom Senden-Button auf deiner Computer- oder Handytastatur und der Briefkasten-Klappe.
Lass es besser, wenn du sowieso schon geladen bist.
Was für ein Scheiß-Tag! Schon heute früh ist dir die Zahnpasta von der Zahnbürste gefallen. (Für mich ein Anzeichen dafür, dass sie mir’n gebrauchten Tag andrehen wollen, den ich entschieden zurückweise: „Danke! Sehr nett. Nehm‘ ich nicht!“ – oder der Grund, mich wieder hinzulegen. Je nach Tagesform.) Auto nicht angesprungen, Bus vor der Nase weggefahren, Kollegin blöd gewesen, Chef sowieso. Kein guter Zustand, um Textreaktionen zu versenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass du emotional, superempfindlich oder impulsiv antwortest und du deine Nachricht später bereust, ist hoch.
Besser: Durchatmen. Mehrmals. Und/ oder einmal um den Block gehen. Auf jeden Fall: Selbst erstmal runterkommen.
Lass es besser, wenn du betrunken bist.
Ich hatte mal eine Freundin, bei der konnte ich sicher sein, dass nach einem netten Abend eine unsägliche WhatsApp folgte. Ich hätte an der einen Stelle des Gesprächs so böse geschaut, was denn das gesollt hätte. Ich hätte dies nicht und jenes nicht. Sie fühle sich mir nicht nah, ihre Definition von Freundschaft sei eine andere. Außerdem sollte ich sowieso ganz anders sein. So wie ihre lieben (!) Freundinnen, die mit Herz. So, dass es ihr mit mir besser ginge. Was genau sie wollte, konnte sie nicht ausdrücken. Denn: Sie textete mit besoffenem Kopp.
Immer hatte sie es nicht so gemeint. Immer sollte ich es nicht so ernst nehmen, nicht so empfindlich sein. Bis ich den Kaffee aufhatte, mir solche Nachrichten verbat und ihr sagte, ich würde ihre nächtlichen Besoffski-Beschwerde-Nachrichten morgens ungelesenen löschen. Wenn was wäre, sollte sie bitte einfach mit mir reden.
Es änderte sich nichts, bis ich offenbar auch Texte gelöscht hatte, die anderer Art und wichtig waren. Tjääh! Seit wir mit klarer Rübe darüber sprachen, kann auch mein Handy nach weinseligen Abenden ruhig schlafen.
Mein Tipp: Nie besoffen schreiben! Nie!!! Und wenn aus Versehen doch, auf keinen Fall absenden!
Lass es besser, wenn es um etwas Wichtiges geht.
Wichtige Sachverhalte und ernste Themen lassen sich selten mit Textnachrichten oder per E-Mail klären. Zwischentöne transportieren sich nicht, unbedeutsames kann riesengroß werden, Wichtiges untergehen und Missverständnisse können sich aufbauen oder aufschaukeln.
Besser: Frag‘ die Person, wann sie Zeit für ein Treffen hat und vermeide bei der Terminabsprache Formulierungen wie „etwas Wichtiges bereden“ oder „etwas Ernstes klären“ – um Spekulationen und trotzdem entstehendes Hin- und-Hergetexte zu vermeiden.
Termin ausmachen. Drüber reden. Fertig.
Lass es besser, wenn dein Schwarm nicht antwortet.
Wenn du gerade eine ganz wunderbare Person kennengelernt hast, ihr textest oder Briefe schreibst, sie dir aber nicht antwortet, dann (Sorry!), siehts wohl so aus, wie Cynthia Nixon als rothaarige Anwältin Miranda Hobbes in „Sex and the City“ meint:
Haken dran. Krone richten. Weiter gehen. – Statt unendlicher Texterei, Warterei, Quälerei. Hart, aber wahr.
Lass es besser, wenn du läufst.
Unterwegs, Blick nach unten aufs Handy, im Gehen mal eben schnell noch diese eine Nachricht tippen. Nicht in Ruhe, weil ich eh schon spät dran bin und ich den Bus …
Keine gute Idee. Sagt die, die sich die Füße schon in einfacheren Situationen super brechen oder vor Laternen laufen kann. Kein Witz!
Also: Texten immer nur im Stehen oder Sitzen. Einfach & banal. Aber garantiert risiko- und schmerzfreier.
Wann es genau andersherum ist: Wann Schreiben besser als Nichtschreiben ist.
Fast immer. Um Herz und Hirn zu klären. Um zu feiern und zu wüten. Um etwas in den Schrank stellen zu können, das dich belastet. Um deine Stimme zu finden und zu erheben, um deine Meinung zu sagen, Haltung zu zeigen. Für etwas, das dir wichtig ist. Wild und frei. Egal ob in Morgenseiten, Gedichten, Romanen, Autofiktionen, Rants, Blogartikeln. Wie und wo auch immer. You name it.
Außer: Siehe oben. Kreis geschlossen. Fertig. Ende.
„Wie Schreiben mir hilft.“
Erfahre als eine der Ersten von meinem neuen Angebot:
Zusammen mit Susanne Barth entwickle ich gerade einen neuen Live-Workshop zum improvisierten, emotionalen Schreiben. Die Plätze sind begrenzt, denn wir wollen auf jede Teilnehmerin individuell eingehen.
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Wer schreibt hier eigentlich?
Hi, ich bin Birgit Elke Ising. Ex-Bank-Managerin, Coachin, Autorin, Speakerin und (improvisierende) Schauspielerin. Ich bin Expertin für Transformationsunterstützung. Mit kreativen Coaching-, Theater- und Schreib-Techniken helfe ich dir aus der Schwere ins Handeln.
Mehr über mich erfährst du hier.
Du willst mehr lesen? Hier ist mein Buch:
Eingefroren in der Zeit.
Ein guter Einstieg ins Thema Ahnentrauma. Du brauchst keine Vorkenntnisse.
Nur Lust auf Geschichten. Skurrile Geschichten.
Deep Shit, mit Humor und Leichtigkeit erzählt.
„Wütend, witzig, weise.“
(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)
Für aktuelle Updates folge mir:
Liebe Birgit, das ist ein herrlicher Text und ja wie hätte so schöne meine Oma gesagt „In der Ruhe liegt die Kraft“. Die besten Sachen entstehe einfach, wenn sie sacken können. Das merke ich immer, wenn ich selbst einen Artikel schreibe und es schaffe nicht gleich auf senden zu klicken. Auch bei meiner täglichen Arbeit als Grafikerin, ist es immer gut, wenn ich Entwürfe über Nacht liegen lasse und dann am nächsten Tag mit frischem Blick noch einmal überarbeite. Je mehr Zeit ich mir nehmen kann, um so besser wird es. Ein Zerdenken ist zum Glück aufgrund der Dealines nicht möglich. Werde ab jetzt disziplinierter meinen Artikel die Zeit zum Ruhen geben. Danke für den Anstoß dazu. LG, Dana
Liebe Birgit,
ach, ich mag deinen offenen, unbekümmerten, lockeren Schreibstil so sehr- und kann beim Lesen deiner guten Gründe, wann und wann nicht schreiben eine gute Idee ist, froh sein, dass du sie in der „Ja, das schreibe ich jetzt“-Phase formuliert und abgesendet hast 🙂
Ich finde mich in allen deinen Punkten wieder – vor allem das „Ruhen lassen“ eines ersten Entwurfs ist so wichtig, um den emotionalen (wir lieben jeden unserer Texte!) Abstand herzustellen.
🙂
Ich freue mich darauf, mehr von dir zu lesen,
herzlichst
Gabi
Liebe Birgit, was für ein mein Schreibherz öffnender Beitrag. Jede der von dir beschriebenen Situationen ist mir bekannt und ich gehe schon so damit um, wie du es beschreibst. Es noch einmal so detailliert und strukturiert zu lesen, tut mir gut, macht es bewusst und damit verankert es sich noch einmal besser. Besonders angesprochen haben mich die drei Punkte: den ersten Entwurf schreiben und liegen lassen, keine Mails/Chats und Co in emotional erregtem Zustand und mit trunkigem Kopp – ins Bett gehen, Rausch ausschlafen und am Morgen überlegen, ob ich da wirklich etwas schreiben will. Letzteres habe ich in meinen jungen Borderlinejahren oft gebracht, mit eben den Entschuldigungen und Beteuerungen am nächsten Tag. Hat mich damals mehr als eine Freundschaft gekostet. Danke für diesen wunderbar knackigen Beitrag und die Idee in meinem Hinterstübchen, die er angetriggert hat. Liebe Grüße Sylvia