Vielleicht fragst du dich machmal: Warum reagiere ich in bestimmten Situationen so intensiv? Warum habe ich Ängste, Unsicherheiten oder innere Blockaden, die mir schleierhaft sind und die scheinbar nicht aus meinem eigenen Leben stammen? Warum fällt es mir schwer, Leichtigkeit zuzulassen? Die Antwort könnte in der Epigenetik liegen – einem spannenden Forschungsfeld, das zeigt, wie Erlebnisse und Traumata unserer Vorfahren, also Dinge, die wir gar nicht selbst erlebt haben, dennoch Spuren in uns hinterlassen können.
Was ist Epigenetik?
Sprachlich ist der Begriff Epigenetik zusammengesetzt aus dem Wort Genetik (altgriechisch geneá → „Abstammung“ und génesis → „Ursprung“) und dem Begriff Epigenese (altgriechisch: epigénēsis → „nachträgliche Entstehung“). So bedeutet Epigenetik wörtlich „über der Genetik“. Wissenschaftlich ist die Epigenetik das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen.
Die Geschichte der Epigenetik beginnt in den frühen 2000er-Jahren, als Wissenschaftler:innen berichten, dass äußere Lebensumstände – z.B. mangelnde mütterliche Zuwendung , körperlicher/ seelischer Missbrauch, aber auch Gewohnheiten (u.a. fettreiche Ernährung) und Umwelteinflüsse (wie Luftverschmutzung) – chemische Marker auf der DNA beeinflussen. Marker, die angefügt und entfernt werden können, Marker, die mitbestimmen, unter welchen Umständen welches Gen an- und wann es wieder abgeschaltet wird. Experten nennen das Genregulation.
Während unsere DNA wie das Drehbuch unseres Lebens ist, bestimmt die Epigenetik, welche Kapitel hervorgehoben oder übersprungen werden. Stell dir deine DNA wie ein Buch vor. Der Text ist festgelegt, aber mit Markierungen, Lesezeichen und Kommentaren kann beeinflusst werden, welche Abschnitte gelesen und welche ignoriert werden. Diese Markierungen sind im übertragenen Sinne das, was epigenetische Mechanismen tun: Sie entscheiden, welche unserer Gene aktiv sind.
Der Moelularbiologe und Genetiker Professor Rudolf Jaenisch beschrieb es in einem Interview mit der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ einmal so: Epigenetik, das seien „Signale, die von Zelle zu Zelle weitergegeben werden und gewährleisten, dass bestimmte Gene an- oder ausgeschaltet bleiben. Man muss sich das so vorstellen, dass wir in einer Leberzelle und einer Gehirnzelle genau das gleiche Erbgut haben – absolut die gleiche Gensequenz. Aber die Gene sind unterschiedlich verpackt. Manche werden so verpackt, dass sie eben nicht abgelesen werden können. Deswegen sind in der Leberzelle nur die Gene aktiv, die die Leberzelle benötigt, und in der Gehirnzelle nur die, die eine Gehirnzelle benötigt.“
Epigenetischen Markierungen sagen den Zellen also, was sie zu tun und zu lassen haben. Und, oh Wunder!, diese Markierungen sind – anders als die Gene – veränderbar! Kurz: Mit Hilfe von egigenetischen Markierungen können sich die Zellen einer sich verändernden Umwelt anpassen.
Jaensich selbst habe im Biologieunterricht noch gelernt, dass die Entwicklung einer Zelle eine Einbahnstraße sei, dass der Weg von der Eizelle zu einer Gehirnzelle oder zu einer Leberzelle unumkehrbar sei. Die Epigenetik aber zeige nun, dass es mitnichten eine Einbahnstraße ist. Epigenetik sind Einbahnstraßenschilder, die wir (nach dem bisherigen Stand der Forschungen) nun umdrehen oder ganz entfernen können.
Und, ebenfalls kurios:
Epigenetische Marker können vererbt werden.
Allein, dass ein Genoms, auf seine Umwelt reagiert, erscheint uns unglaublich. Schon dabei möchten wir „Was? Wie? Unsinn!“, rufen, denn auch wir haben in der Schule gelernt, dass unser Wesen wenn schon nicht gottgegeben, so doch genetisch vererbt ist und nicht verändert werden kann.
Wie viel provokanter und unwahrscheinlicher wirkt da der Gedanke, epigenetische Marker könnten ihre Informationen über Generationen hinweg weitergeben? Die Vorstellung, unsere Erfahrungen und unser Handeln könnten wir unseren Kinder und Enkeln vererben, passt noch viel viel weniger in unsere Vorstellung.
Und doch scheint das möglich zu sein!
Isabelle Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik am Institut für Hirnforschung an der Universität und ETH Zürich, hat herausgefunden, dass wir die Aktivität unserer Gene und folglich die Entwicklung der Zellen durch unseren Lebenwandel selbst verändern. Mehr noch: Diese Veränderungen können vererblich sein. Sie konnte in ihrer Forschung mit Mäusen beweisen, dass Traumata vererbt werden. Das Forschungsteam trennte Mäuse während ihrer ersten zwei Lebenswochen für mehrere Stunden am Tag von ihren Müttern. Ein Mega-Stress für die Babymäuschen. Als diese Tiere ausgewachsen waren, verhielten sie sich auffällig. Und ihre ganz normal aufgewachsenen Nachkommen, zeigten dieselben Verhaltensstörungen. Die Forscher:innen schlossen daraus: Schwere Traumata schlagen sich dauerhaft in Körper und Verhalten nieder und werden sogar an den Nachwuchs vererbt.
Nun sind Mäuse keine Menschen, noch ist nicht ganz klar, inwieweit diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, aber die Wissenschaftler:innen konnten erkennen welche Substanz bei der Vererbung eine Rolle spielt und welche Prozesse einsetzen, wenn die Maus an einem Trauma oder einer Depression leidet. Sie haben Anhaltspunkte gefunden und wissen, wonach sie beim Menschen suchen müssen.
Wie können traumatische Erfahrungen unsere Gene beeinflussen?
Und dennoch haben Studien schon gezeigt, dass schwere (lebensbedrohliche) traumatische Belastungen wie z.B. Krieg, Hungersnöte, körperliche und/oder seelische Gewalt Spuren im epigenetischen Code hinterlassen können.
Besonders gut erforscht ist dies bei den Nachkommen von Holocaust-Überlebenden oder Menschen, die in Kriegszeiten gelebt haben. Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden eine veränderte Stressregulation hatten – obwohl sie selbst die Erfahrungen ihrer Eltern gar nicht gemacht hatten.
Ähnliches zeigte sich bei den Nachkommen von Menschen, die in Zeiten großer Hungersnöte lebten: Ihr Stoffwechsel ist oft so programmiert, dass er effizienter mit Nahrung umgeht, da der Körper quasi „vorbereitet“ ist auf Mangelzeiten – selbst wenn diese längst vorbei sind und sie als Nachkommen nie Hunger gelitten haben.
Die Wissenschaftler:innen schlussfolgerten, dass selbst Traumata, die noch vor der Empfängnis eines Kindes stattfanden, an die Nachkommen weitervererbt würden. Die veränderte Genaktivität durch traumatische Erlebnisse wurde nämlich über Generationen hinweg weitergegeben!
Die Forschung zur epigenetischen Vererbung von Traumata hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht.
Hier einige aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Bedeutung der Epigenetik bei der Vererbung von Traumata unterstreichen und zeigen, wie tiefgreifend die Erfahrungen einer Generation die Gesundheit und das Verhalten nachfolgender Generationen beeinflussen können.
Epigenetische Mechanismen der Trauma-Vererbung:
Studien deuten darauf hin, dass traumatische Erlebnisse epigenetische Veränderungen hervorrufen können, die an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Diese Veränderungen beeinflussen die Genaktivität, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern. Beispielsweise können chemische Modifikationen an DNA-Strängen die Ableserate bestimmter Gene steuern, was zu einer veränderten Stressreaktion bei Nachkommen führen kann.
Tierstudien zur transgenerationalen Epigenetik
In Tiermodellen, insbesondere bei Mäusen (s.o.), wurde gezeigt, dass traumatische Erfahrungen der Eltern epigenetische Veränderungen in den Keimzellen (Sperma oder Eizellen) verursachen können. Diese Veränderungen können die Stressreaktionen und das Verhalten der Nachkommen beeinflussen, was darauf hindeutet, dass epigenetische Mechanismen eine Rolle bei der Vererbung von Traumata spielen könnten.
Einfluss von Kindheitstraumata der Mutter auf die neuronale Entwicklung des Kindes
Eine Studie der Emory University aus dem Jahr 2022 untersuchte, wie die Kindheitserfahrungen von Müttern die Gehirnentwicklung ihrer Babys beeinflussen. Die Ergebnisse zeigten, dass Mütter, die in ihrer eigenen Kindheit Traumata erlebt hatten, epigenetische Veränderungen aufwiesen, die mit Veränderungen in der neuronalen Entwicklung ihrer Kinder verbunden waren. Dies deutet darauf hin, dass mütterliche Erfahrungen die Gehirnentwicklung des Nachwuchses durch epigenetische Mechanismen beeinflussen können.
Epigenetische Auswirkungen des „Hungerwinters“ 1944/45
Untersuchungen zum niederländischen „Hungerwinter“ am Ende des Zweiten Weltkriegs haben gezeigt, dass extreme Nahrungsmittelknappheit während der Schwangerschaft epigenetische Veränderungen bei den Nachkommen verursachen kann. Diese Nachkommen neigen später im Leben zu Übergewicht und anderen gesundheitlichen Problemen, was darauf hindeutet, dass die epigenetischen Anpassungen an die Hungersnot langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der folgenden Generation(en) haben können. Im Laufe der Zeit entdeckten die Forscher aber etwas noch Seltsameres: Nicht nur die Kinder der hungernden Schwangeren, sondern sogar deren Enkel waren häufiger dick und zuckerkrank.
Aber was hat das nun mit uns zu tun?
Die Last der Kriegsenkel-Generation
Viele von uns gehören zur Generation der Kriegsenkel und Kriegsenkelinnen. Unsere Eltern oder Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg erlebt – mit all seinen Schrecken, Verlusten, Flucht, Hunger und existenziellen Ängsten. Sie mussten funktionieren, stark sein, weitergehen (auch wenn sie auf der Flucht sterbende Verwandte zurücklassen mussten) – ohne Raum für Verarbeitung oder Trauer. Um überhaupt weiterleben zu können, haben viele die schlimmen Erfahrungen abgespalten und ins Unterbewusste verschoben. Die so nie verarbeiteten und stattdessen unterdrückten Gefühle und Ängste bildeten Überlebensmuster, wirkten oft unausgesprochen weiter und wurden so unbewusst an uns, deren Kinder, weitergegeben.
Mehr noch: Epigenetische Veränderungen scheinen auch die Psyche zu beeinflussen.
Vielleicht kennst du das Gefühl, nicht gut genug zu sein, bist ständig beschäftigt, gönnst dir keine Ruhe oder bist bestimmt vom Bedürfnis, unbedingt stark und unabhängig sein zu müssen? Vielleicht fällt es dir (so wie mir) schwer, deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken und bist stattdessen wie selbstverständlich immer für alle anderen da. Oder du hast eine tiefe Angst, z.B. davor verlassen zu werden? (Weitere Symptome findest im Blogartikel Kriegsenkel Trauma: Hast du diese 10 Symptome, bist du wahrscheinlich betroffen.)
Das könnten epigenetische Spuren sein, die sich aus den Erlebnissen deiner Vorfahren ergeben haben.
Na toll! Und jetzt?
Müssen wir wirklich für immer in alten Mustern feststecken und die Generationenschleife immer wieder wiederholen?
Zum Glück nicht! Denn epigenetische Prägungen sind keine unveränderlichen Schicksale – sie lassen sich aktiv beeinflussen.
Wie du alte Muster durchbrichst und neue Wege für dich eröffnest, erfährst du in diesem Blogartikel: Epigenetische Prägung verändern – 4 Beispiele, die zeigen, wie das gehen kann.
Löse deine
Generationen-
themen auf.
Lerne, zwischen deinen eigenen Gefühlen und denen deiner Vorfahren zu unterscheiden.
Wirf die Lasten der Vergangenheit ab. Starte in ein freies, selbstbestimmtes Leben!
Literatur-Empfehlungen
- Die Gene – eine persönliche Geschichte* (Siddharta Mukherjee)
Unterhaltsame Reise durch Gen-Geschichte bis hin zur Entdeckung der Epigenetik. - Der zweite Code* (Peter Spork)
Anschauliche, verständliche Erklärung aller einflussreichen Studien aus der Epigenetik-Pionierzeit. - Epigenetik – Implikationen für die Lebens- und Geisteswissenschaften* (Sammelband von einer interdisziplinären Forschergruppe um den Saarländer Epigenetiker Jörn Walter)
Betrachtung philosophischer, ethischer & rechtlicher Auswirkungen der Epigenetik. Verständlich und anschaulich – allerdings für Fortgeschrittene. - Und bei Tante Google gibts unter dem Stichwort „Bücher Epigenetik“ noch viel mehr – auch manchen scharlatanösen Unsinn, wie ich finde. Aber wenn Du genau hinschaust, merkst Du das schnell selbst. ↑ Die da oben empfehle ich hingegen von Herzen.

Wer schreibt hier eigentlich?
Hi, ich bin Birgit Elke Ising. Ex-Bank-Managerin, Coachin, Autorin, Speakerin und (improvisierende) Schauspielerin. Ich bin Expertin für Transformationsunterstützung. Mit kreativen Coaching-, Theater- und Schreib-Techniken helfe ich dir aus der Schwere ins Handeln.
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Eingefroren in der Zeit.
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Nur Lust auf Geschichten. Skurrile Geschichten.
Deep Shit, mit Humor und Leichtigkeit erzählt.
„Wütend, witzig, weise.“
(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)
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Wow, liebe Birgit. Das ist ein wahnsinnig guter Fachartikel, der das komplexe Thema leicht verständlich macht. Mein Hirn hat im Biologieunterricht beim Wort „DNA“ immer dicht gemacht – bei dir hatte ich Freude, weiterzulesen. Danke dafür und dass du die Epigenetik in den Kontext zur Kriegsenkelschaft setzt ist, denke ich, sehr sehr wertvoll.
Liebe Sina,
herzlichen Dank. Schön, dass ich das komplexe Thema so für Dich gepackt habe, dass es Dir beim Lesen Freude gemacht hat.
Ich denke auch, dass der Kriegsenkel:innen-Kontext sehr erhellend und erlösend für viele Menschen sein kann.
Herzlichst
Birgit