Was ist der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl?

Veröffentlicht am Kategorisiert in Kriegsenkel & Ahnentrauma
Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl, Birgit mit Zeigefinger

„Das ist doch das Gleiche!“, bekomme ich oft zur Antwort, wenn ich in Gesprächen auf den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl hinweise. Ist es aber nicht!

Ich bin ein sehr durchlässiger Mensch. Als gut konditionierte Kriegsenkelin bin ich darauf spezialisiert, zu merken ob und was mit anderen los ist. Ich höre die Flöhe husten und habe mühsam und schmerzhaft gelernt, mich gegen den Gefühlssalat anderer und deren Verantwortung für ihr Leben abzugrenzen. Ich gehe nicht mehr automatisch und wie aufgezogen ins reine, blanke Mitleid, wenn es anderen nicht gut geht. Weil das niemandem etwas nützt.

Ich schaue keine Nachrichten mehr. Was ich brauche und wichtig finde, lese ich in „Die Zeit“ und den Rest lasse ich links liegen.

Von mancher wurde ich deswegen schon mit dem Label „abgebrüht“ oder „kalt“ bestempelt. Aber das bin ich nicht. Ich habe kein Mitleid und gehe nicht ins Drama, aber ich habe Mitgefühl. Und das finde ich suuuper.

Denn ich mache einen feinen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl.

Warum das Leid der Anderen etwas mit uns macht

Wir Menschen sind emotionale und soziale Wesen.

Die neuronalen Systeme unseres Gehirns, u. a. die Spiegelneuronen, haben die Fähigkeit Erregungsmuster anderer Lebewesen in unserem Umfeld nachzubilden und in unserem Körper ebenfalls herzustellen. Egal ist dabei, ob wir eine Situation selbst erleben oder nur beobachten. Deshalb sind wir bei einem spannenden Thriller im Fernsehen erregt, schniefen im Kino und holen tief Luft bei einem berührenden Buch.

Mitleid und Mitgefühl sind emotionale Reaktionen auf das, was wir sehen oder erleben.

Wir können uns in andere Lebewesen hineinversetzen, wurscht, ob die uns „in echt“ oder in nur Geschichten begegnen. Wie andere sich fühlen, macht etwas mit uns. Besonders, wenn’s denen schlecht geht. Es macht uns etwas aus.

Genau an der Stelle setzt der große Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl an:

Denn ob aus unserem Erleben Mitleid oder Mitgefühl wird, hängt ganz von unserer eigenen inneren Einstellung und Haltung ab. Und das heißt auch: Wir können uns entscheiden zwischen Mitleid und Mitgefühl.

Eine Beispielsituation

Stellen wir uns folgende Situation vor:

Du siehst eine alte, kleine, zerbrechliche Frau allein auf einer Bank sitzen. Zu ihren Füßen stehen gut schwere Einkaufstüten. Sie ist sichtlich erschöpft, atmet schwer und guckt verloren und traurig in die Ferne.

Was macht das mit dir? Vielleicht denkst du: „Oh mein Gott, die Arme! Vermutlich hat sie niemanden, der ihr hilft und ist schrecklich einsam, total allein.“

Und jetzt kommt der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl:

Was ist Mitleid?

Mitleid, wie das Wort schon sagt, heißt: Mitleiden. Du siehst diese Frau, identifizierst dich mit ihrer Situation und leidest mit.

Du verbindest den Anblick mit deinem eigenen Leben, weil dir die Frau leid tut.

Du denkst zum Beispiel: „Hoffentlich geht mir das nicht auch mal so.“ Und plötzlich ist deine Angst vor Alter und Einsamkeit, vor Schwäche und Krankheit da und überflutet dich. Dir schießen Tränen in die Augen, weil du dich selbst als alte Frau auf dieser Bank sitzen siehst und augenblicklich tust du dir selbst schon jetzt unendlich leid. Der Abstand zwischen mir und der Frau verschwimmt und verschwindet. Du machst dir die Situation der fremden alten Frau zu eigen, verbindest sie mit dir und deinem Leben.

Oder der Anblick der alten Frau erinnert dich an etwas Schlimmes, das du selbst erfahren hast oder gesehen hast, vielleicht an deine alte Mutter oder Momente der Einsamkeit und sofort bist du wieder in „deinem alten Film“. Die Person, um die es aktuell geht (die alte Frau auf der Bank), tritt in den Hintergrund und du gibst dich ganz deinem Schmerz oder deiner Angst hin.

Deine Gefühle gehen nach innen, ganz zu dir selbst hin und überfluten dich derart, dass du dich selbst nicht mehr spüren kannst. Du merkst nicht mehr, dass es dir hier und jetzt ja nicht schlecht geht. Oder ging, bis eben jedenfalls. Du bist wie gelähmt und zu nichts fähig.

Du nennst das Mitgefühl, aber du verwechselst es mit Mitleid. Du bist nicht mehr bei der alten Frau. Sie war nur der Auslöser für deine großen Gefühle. Es geht jetzt um dich. Dir geht es jetzt schlecht.

In diesem Erleben kannst du nur noch das Weite suchen, um dich selbst zu schützen. Du kannst keine Hilfe, keine Stütze, keine Ratgeberin oder Unterstützerin für die alte Frau sein, weil du selbst gerade so bedürftig bist und nur noch wegwillst.

Du gehst schnell vorbei, weil du einfach nicht hinschauen kannst. Du kannst das nicht ertragen, nicht aushalten. Bloß weg hier!

Was ist Mitgefühl?

Mitgefühl heißt mitfühlen. Du fühlst mit der alten Frau. Du siehst diese Frau, aber identifizierst dich nicht mit ihr und ihrer Situation. 

Du verbindest den Anblick nicht mit deinem Leben, obwohl dir die Frau leid tut. Du weißt, dass es dir gutgeht, obwohl es ihr schlecht geht. Und du weißt, dass das so sein darf.

Vielleicht denkst du: „Sie sieht erschöpft aus. Ob es ihr gut geht? Ob die Tüten schwer sind? Wo sie wohl herkommt? Wo will sie hin? Braucht sie etwas?“

Auf den ersten Blick erscheint deine Haltung kühler, nicht so emotional, denn der Abstand zwischen dir und der Frau bleibt bestehen. Du wahrst den inneren Abstand zwischen deinem und ihrem Leben. Du bist hier und sie ist dort. Die Situation der fremden alten Frau bleibt ihre, sie wird nicht zu deiner. Du verbindest sie nicht mit dir und deinem Leben.

Deine Gefühle gehen nach außen, zu der alten Frau und sie bleiben bei ihr. Sie hat es gerade nicht leicht. Trotzdem schwingen deine Gefühle mit ihr. Du bist ganz bei ihr, fühlst mit ihr und kannst dir vorstellen, wie es ihr gerade geht.

Das lässt dich handlungsfähig und neugierig bleiben, vielleicht sogar hilfsbereit.

Statt schnell vorbeieilen zu müssen, bist du in der Lage, auf sie zuzugehen. Vielleicht kannst du dich neben sie setzen und sie fragen, ob sie Hilfe braucht. Kannst anbieten, ihr ein Wasser zu besorgen. Kannst sie fragen, wie weit sie es noch hat. Ob du ihre Tüten nach Hause tragen darfst. Vielleicht braucht sie aber auch einfach nur ein paar Worte.

Oder (oh Wunder!) vielleicht braucht sie auch gar nichts. Vielleicht ist sie gar nicht so arm und klein und einsam wie du sie wahrnimmst. Vielleicht wartet sie hier nur auf ihren Sohn, der gerade das Auto holt. Vielleicht schaut sie nur entspannt in die Ferne. Vielleicht sieht sie immer so aus. Vielleicht war die ganze Geschichte nur in deinem Kopf so schlimm …

Wieder was gelernt. Das alles kannst du nur herausfinden und erleben, wenn du im neugierigen Mitschwingen des Mitgefühls bleibst und in den Kontakt zu der Dame gehst, also herauszufinden versuchst, was wirklich los ist.

Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl

Zur besseren Übersicht hier noch einmal der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl auf einen Blick:

Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl
Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl
© Infografik by Birgit Elke Ising

Fazit: Mitgefühl is it!

Ich behaupte: Wer sich den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl einmal klargemacht, der fällt nicht mehr so einfach automatisch ins Mitleid.

Obwohl der alltäglichen Mitleids-Versuchungen viele sind:

Wir können jeden Tag im Leid der ganzen Welt versinken und nicht aufhören, uns über schlechte Nachrichten zu grämen. Doch unser Mitleid macht nicht nur uns selbst missmutig, griesgrämig und krank, sondern es führt auch zu schlechter Stimmung in unserem Umfeld.

Und: Nur im „Uiuiui, ist das schrecklich!“-Modus rumzuhängen, zu jammern und tatenlos auf dem Sofa oder am Kneipentresen in düsteren Gedanken zu versinken, hilft keinem! Damit machen wir das Busunglück aus den Nachrichten, das irgendwo in einem fernen Land viele Menschen in eine Schlucht geschleudert und in den Tod gerissen hat, auch nicht wieder lebendig.

Wenn wir uns aber dafür entscheiden, ins Mitgefühl zu gehen, dann folgt dem auch eine Handlung. Muss meiner Meinung nach eine Tat folgen.

Wir kommen mit der alten Dame auf der Bank ins Gespräch, können Unterstützung und Hilfe anbieten. Wir können offen fragen „Wie geht es Ihnen? Wie geht es dir? Und nicht nur das. Wir können auch die Antwort aushalten. Offen sein und in der Haltung „Ich sehe dich und deinen Schmerz.“ – Der sich übrigens in den allermeisten Fällen von unserem Schmerz in ähnlich erlebten Situationen komplett unterscheidet.

Also bitte eher Vorsicht mit dem Satz: „Ich weiß genau, wie du dich fühlst.“ – Haha! Woher denn? Das sind dann Gespräche à la: „Oh, ich weiß. Ich erinnere mich genau noch daran, wie es bei mir war, als Hanswurst mich verlassen hat. Das war so schlimm! Ich habe Tag und Nacht geweint und wusste weder ein noch aus.“ Oder: „Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Als meine Mutter starb, war das so und so und so.“ – Blablabla, Rhabarberrhabarber …. – Antworten, bei denen ich Brechreiz kriege!

Da wollen wir doch lieber mal genauer hinsehen und nachfragen:

  • „Wie meinst du das genau?
  • „Wie ist das für dich?“
  • „Wie fühlt sich das an?“
  • Was hast du in der Situation gemacht, gedacht, gefühlt?“
  • „Was würde dir jetzt guttun?“
  • „Wie kann ich dich dabei unterstützen?“

Uuuund: Action!

Ich könnte spenden, mich ehrenamtlich engagieren, in die Politik gehen (die, die Menschenwürde und Demokratie ehrt!). Für meine Nachbarn einkaufen gehen. Oder akzeptieren, dass die alte Dame auf der Bank meine Hilfe gar nicht braucht.

Wenn ich weiß, dass meine Freundin total durch den Wind ist, weil sie mit einer Situation grad echt überfordert ist, dann könnte ich einfach vorbeifahren, klingeln und da sein. „Was ist denn? Zeig mal her!“ und ohne viel tammtamm (wenn gewollt) die Dinge regeln, die sie im Moment nicht hinkriegt, einen Tee kochen, „Ach, du Arme!“ sagen und es von Herzen meinen.

Letztens sagte sie, dass ich das den einen Nachmittag vor ein paar Monaten genauso gemacht habe, das würde sie mir nie vergessen. 😉

Oder ich könnte jetzt meinen Freund anrufen, der gestern auf Instagram gepostet hat, dass er sich von seiner todkranken Katze verabschieden musste. Ich könnte ihm sagen, dass ich gerade an ihn denke. Könnte ihn erzählen lassen, ihm zuhören, wenn er sagt, dass er sich wie ein Henker fühlte, als er die Entscheidung fürs Einschläfern des kleinen Freundes beim Tierarzt getroffen hat. Ich könnte ihm zeigen: „Du bist mir wichtig. Ich interessiere mich für dich und bin für dich da!“ – So wenig. Und doch so viel!

– Weißte was? Genau das mach‘ ich jetzt. Rrrring, rrring …

Viele Kriegsenkel:innen leiden darunter, dass ihre Eltern ihnen gegenüber kein Mitgefühl aufbringen können. Sie jagen noch immer dem Gesehen-Werden und der Wertschätzung durch Mutter und/ oder Vater hinterher – meist ohne Erfolg. Geht es dir auch so und möchtest du dich daraus befreien?

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Wenn wir zusammen passen, können wir in einem Coaching gemeinsam herausarbeiten, wie du dich selbst mehr wertschätzen kannst. Und nicht mehr so abhängig bist vom Blick anderer.

Birgit Ising mit Notebook
Wer schreibt hier eigentlich?

Hi, ich bin Birgit Elke Ising. Ex-Bank Managerin, Coachin, Autorin, Speakerin und (improvisierende) Schauspielerin. Ich bin Expertin für Transformationsunterstützung. Mit kreativen Coaching-, Theater- und Schreib-Techniken helfe ich dir aus der Schwere ins Handeln.
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(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)

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9 Kommentare

  1. Liebe Birgit,
    oh, was für ein wundervoller Artikel, die Unterscheidung ist SO wichtig!
    Mit einer nahen Verwandten in aufsteigender Linie finde ich mich regelmäßig in fruchtlosen Diskussionen übers Mit-Leiden und Nachrichtengucken und Nach-Leiden undsoweiter.
    Ich steh auf Mitgefühl und Handlungsspielräume. Und I love your Infografik. Lohnendes Hirnen, in der Tat. Das inspiriert mich, ich glaube, ich will auch mal!
    Allerliebste Grüße,
    Silke

    1. Liebe Silke,
      vielen lieben Dank. Das bestärkt mich in meiner Sicht der Unterscheidungen und meinem Fokus auf Handlungsspielraum statt Erstarren. Und ja: Die Erstellung der Infografik hat einen Riesenspaß gemacht, hat aber auch lange dauert. 🤪
      Herzlichst
      Birgit

  2. Liebe Birgit, das Thema …, was habe ich mich darüber schon gefetzt. Hätte ich da mal deinen Artikel gehabt, denn der fasst in Worte, was ich nicht aussprechen konnte. Einfach nicht den Unterschied klarmachen konnte. Vielen Dank!
    Eine Frage direkt dazu: Wie siehst du in dem Zusammenhang den Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid“? Das war nämlich dann das Killerargument.
    Liebe Grüße Ulrike

    PS: Die fehlende Wertschätzung als Kriegsenkel: ohja! Aber trotz Mitgefühl in meinem Fall. Das eine schließt das andere nicht aus.

    1. Liebe Ulrike,
      wow, liebe Ulrike für Deinen Kommentar. Das freut mich aber sehr!

      Zu „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ sag ich:

      BULLSHIT! Weil:

      1. Ich (als Mitfühlende) will Dein Leid gar nicht haben. Nicht mal das halbe.
      2. Und ich wills mir mit diesem Spruch auch nicht von Dir vor die Füße schmeißen lassen.
      3. Ich kann Dir Dein Leid gar nicht abnehmen. Das kann niemand.
      4. Dein Leid, das musst Du, sorry, schon selber tragen.
      5. Wenn ich Dein Leid (gesetzt den Fall, das ginge) auch nur zur Hälfte nähme, würde mich das meiner Handlungsfähigkeit berauben und:
      6. Dann könnte ich nicht mehr so gut für Dich da sein, wenn es Dir schlecht geht.
      7. Denn das möchte ich als Mitfühlende ja gerne sein: An Deiner Seite, aber nicht IN Deinem Schmerz.
      8. Du kannst mir Dein Leid gerne MITteilen, aber teilen? Teilen tu ich das nicht mit Dir.
      9. Sorry. Ist mir zu viel.

      Ha, und jetzt beim Schreiben bin ich auf was gekommen: Das teilen in dem Spruch kommt von MITteilen! (ist jetzt meine folgerichtige Behauptung!)

      Ende.

      „Mitgeteiltes Leid ist halbes Leid.“ –> This is it!

      Hilft das?

      Dolle Grüße
      Birgit

    1. Liebe Ilka,
      herzlichen Dank. Ich habe irre lange über die Infografik nachgedacht. Toll, dass sie Dir gut gefällt. Dann hat sich das Hirnen ja gelohnt. Ich hätte da noch andere Infografik-Ideen für andere Blogartikel.
      Viele Grüße
      Birgit

  3. Liebe Birgt,
    ein wichtiger Artikel !!!
    Die Welt benötigt so viel mehr Mitgefühl, damit gleichzeitig Tatkraft entstehen kann, um hinzuschauen, zu verstehen, anzupacken oder einfach nur um zu zuhören, ganz still und leise. Und dann entsteht eine Weisheit, die uns befähigt, genau das Richtige für die jeweilige Situation zu tun. Die kann auch manchmal gar nichts sein oder auch ganz viel.
    Herzlichen Dank und liebe Grüße, Birgit

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