Wie entsteht Mut? Die Anleitung in 15 Schritten.

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Wie entsteht Mut. Birgit mit Hund.

Wie entsteht Mut? Die Anleitung in 15 Schritten.

Alle reden von Mut. Darüber, die Komfortzone zu verlassen. Komm, ist doch nicht so schwer! Du musst es einfach nur tun! Spring! Danach wird es sich großartig anfühlen!

Aber es ist schwer! Punkt.

Wie komme ich dahin, mutig zu sein? Was ist da zu überwinden, was geht da vorher ab in dir?

Hier erzähle ich dir meine persönliche Mut-Geschichte. Von der finsteren Gestalt, dem keckernden Raben, der mich beschützen will, aber auch abhält von so vielem. Und noch jemand ist da …

Davor: Die Mut-Aufgabe

Ich bin in einem Coaching, in dem es um meine Stärken geht und bekomme eine Aufgabe. Ich soll meine Freunde und Bekannten fragen, wofür sie mich mögen, was sie besonders an mir schätzen. Ich soll fragen: Was ist meine Superkraft?

Schluck! Mein Körper-Geist-Seele-System wird sofort mit Unwohlsein und Angst überflutet!

Uff, ich? Superkraft? Das hatte ich mich noch nie gefragt. Ich sah bei mir eher das, was ich nicht so toll hinbekam. Die Fehler, die Unzulänglichkeiten, die versemmelten Momente und verpassten Chancen. Die Hättest, Solltest, Müsstest, die Siehste-wieder-nicht-geschaffts. Die Berge, die noch rumlagen und die, die ich immer noch nicht erklommen hatte … Und nun sollte ich andere nach meiner Superkraft fragen? Hölle!

Schritt 1: Geschrei!

Sofort war er hellwach, der Rabe, der auf meiner Schulter wohnt. Er kekkerte los: „Sachma! Geht’s noch? Das kannste doch nicht machen! So wichtig daherkommen und dich in den Mittelpunkt stellen? Das ist „Pfui“! Das ist nicht Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein. Das ist stolze Rose, die stets bewundert will sein. Es geht hier doch nicht um Dich!“

Diese um meine Ohren geklatschten Sätze kenn ich in- und auswendig.

Schritt 2: Widerstand!

Ein anderer Teil in mir ging sofort in Widerstand und schrie zurück: „Wenn es in meinem Leben nicht um mich geht, um wen denn dann, bitte schön?“

Der Rabe raunzte: „Schlimm genug, dass Du Deine eigenen Superkräfte nicht benennen kannst und dass Du dafür nun auch noch andere Leute fragen und belästigen musst. Die haben doch wahrlich besseres zu tun, als sich mit Dir zu beschäftigen.“

Schritt 3: Das Loch in der Zeit

Und dann passierte etwas.

Ich wechselte in einen Meta-Zustand. Ich fand ein kleines Loch in der Zeit, in das hinein ich atmete – ein paarmal lang ein und dann ganz langsam wieder aus.

So konnte ich anhalten, innehalten. Mein Herzschlag verlangsamte sich augenblicklich.

Schritt 4: Der Sturm lässt nach

Ich stand am Ufer und blickte auf meinen innerlich aufgewühlten, sturmgepeitschten See. Ich sah, wie der Wind sich legte und das wütende Zerzausen der Wasseroberfläche nachließ. Ich sah, wie ein Sonnenstrahl durch eine kleine Wolkenlücke am schwarzfliegenden Himmel fiel.

Schritt 5: Erkennen I – Wer spricht da?

Ich fragte mich, wie alt ich gerade war.

Da sah ich sie. Der Sonnenstrahl beleuchtete die dunkle Zimmerecke am Grund des Sees. Dort saß sie – vor Angst zitternd am Boden, ihre Beine aufgestellt, das blasse Gesicht in den Knien verborgen. Der Lichtstrahl beschien das im kalten Nass sitzende, kleine dünne Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als dass das Gebrüll, das Geschrei und die Gewalt endlich aufhörten. Ich erkannte die Kleine aus einer längst verschütteten Zeit und sie berührte mein Herz.

Liebe überflutete mich und ich lockte sie heraus aus ihrem nassen Versteck.

Sofort fiel sie in meine Arme, kuschelte sich auf meinem Schoß ein und ich wiegte sie lange. Sie schluchzte. Ich streichelte ihr dünnes Haar. Wir wussten beide, dass sie auch außerhalb ihres Versteckes fast niemals jemand sah. Sie war abhängig und machtlos. Den Erwachsenen ausgeliefert, mit denen sie keine guten Erfahrungen gemacht hatte. Von denen hatte sie gelernt, dass es nicht um sie ging, dass es egal war, was in ihr vorging, weil es keinen interessierte.

Schritt 6: Erkennen II – Wer ist da noch?

Und da erkannte ich in dem nervigen Raben auf meiner Schulter den einzigen Freund, der ihr noch geblieben war und der sie unter allen Umständen vor weiterem Schmerz bewahren wollte.

Nein! Das stimmte nicht. Da war ja noch wer!

Schritt 7: Erkennen III – Meine Rolle.

Wer war ich denn für sie? Eine weitere Erwachsene, die sie ebenfalls übersah?

What? Ich schämte mich und während ich sie weiter wiegte, versprach ich ihr, von nun an für immer für sie da zu sein. Die Kleine hob den Blick und in ihren verweinten Augen sah ich alle Zweifel dieser Welt.

Schritt 8: Verantwortung & Verhandlung

Ich wusste, ich musste vorsichtig mit ihr sein, ihr zuhören und ihr vieles erklären.

Der Rabe gab zunächst keine Ruhe, flatterte um uns herum, „Nein, nein, nein!“ kreischend. Ich ließ ihn und schließlich setzte er sich zu uns.

Ich verhandelte lange mit den beiden. Ich bat sie, sich unsere Freunde anzuschauen, sich an das Gefühl zu erinnern bei Mutters Beerdigung, als wir uns so getragen fühlten im Kreis der Menschen, die von nah und fern gekommen waren, um uns und sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Ich spann es auf das Netz der guten Freunde und der Familie, die wir uns selbst ausgesucht hatten.

Ich war mir sicher, sie würden uns nicht verstoßen, nur weil wir fragten, was sie an uns mochten.

Schritt 9: Beruhigung & Zuversicht

Meine Sicherheit beruhigte die Kleine und ihren gefiederten Freund. Beide begannen langsam, mir zu vertrauen.

Und ich spürte, wie meine schäumend- rebellische Jetzt-erst-recht!-Wut dem Vogel gegenüber einem „Kommt, lasst es uns doch einfach mal versuchen. Was soll schon groß passieren?“ wich.

Erst waren die beiden noch zögerlich, aber dann sprudelten unsere Ideen und der Plan gewann an Kontur.

Schritt 10: Der kreative Plan

Zu dritt entwickelten wir spielerische Freude an dem Gedanken und an der Gestaltung. Ideen haben und malen!

Die Kleine war aufgeblüht, sprang aufgeregt herum, zerrte mich raus in den Regen und hüpfte mitten hinein in die großen Pfützen unten am Rheinuferweg.

Ja, wir wollten es machen, und zwar wennschondennschon!, dann richtig! Nicht klein und larifari, sondern fett und groß und mitten hinein. Wie Pippi Langstrumpf:

Wir würden ALLE fragen! ALLE auf allen Kanälen. Bämm!

Und wenn was Blödes zurückkäme, würden wir das aushalten. Gemeinsam! Wir hatten ja uns! 

Schritt 11: Vorbereitung

Zusammen kreierten wir einen Post, für Instagram, Facebook und meinen WhatsApp-Status:

Was schätzt du an mir? Frage an deine Freunde.
Meine Frage auf allen Kanälen: Was schätzt du an mir?

Huuuih. Das machte Spaß. Wir fanden uns richtig wagemutig.

Schritt 12: Zweifel und Angst

Umpf! Kurz vorm Senden fielen wir in das große schwarze Loch.

Der Rabe: „Jetzt mal ernsthaft! Was sollen denn die Leute denken? Die werden doch glauben, jetzt spinntse total! Die werden dich rausschmeißen, verstoßen, verlassen! Mit so einer will doch keiner was zu tun haben! (…) Kräh, kräh, kräh!“

– Die Kleine saß längst schon wieder in ihrem verrammelten Schneckenhaus. Traurig und voller Furcht.

Schritt 13: Pause

Der Rabe zeterte und zeterte. Aus dem Schneckenhaus hörte ich ein leises Schluchzen.

Nein! So wollte ich das nicht.

Ich versprach beiden, das jetzt erstmal sein zu lassen und auf sie zu hören. Wir würden eine Pause machen. Der Plan sollte Plan sein und ruhen.

Ich überredete die beiden zu einem Spaziergang am Rheinufer. Erstmal raus, an die Luft, in die Sonne.

Beim Laufen kamen wir ins Schnattern. Die Kleine an der Hand, den Vogel auf der Schulter, hörte ich mir die Bedenken der beiden genau an. Versuchte, sie zu verstehen. Ich ließ sie ausreden, schaute genau hin. Die Aufregung legte sich und wieder wurden beide ruhiger.

Schritt 14: Realitätscheck

Dann nahm ich die Bedenken des Raben und die Ängste der kleinen und holte sie ins Hier und Jetzt. „Kinder, jetzt mal ganz ehrlich: Was würdet Ihr tun, wenn Petra Euch fragen würde, was ihr an ihr mögt?“

„Na, ich würds ihr einfach sagen.“, meinte der Rabe. Ich fragte nach: „Und: Würdest Du Dich von ihr trennen?“ „Nee, wieso das denn?“, antwortete er empört.

Und die Kleine sprudelte: „Und ich, ich würde mich total freuen! Dass sie mich das fragt. Dass sie sich für meine Meinung interessiert. Ich würde ihr alles sagen, was ich toll an ihr finde und dass ich sie doll lieb hab. Schön wäre das.“

Ich fragte weiter: „Würdet Ihr ihr was fieses sagen?“ und Beide: „Nee, wieso, auf keinen Fall.“

Ich blieb stehen, schaute beide an und sagte: „Aha!“

Sie guckten verdutzt . Von einem zum anderen.

Schritt 15: Entscheidung: fuckeinfachmachen!

Da war klar, wir würden es machen!

Gleich, wenn wir wieder zuhause waren. Zusammen. Wir wussten, wir sind ein Superteam.

Später, ich hatte den Finger auf dem Senden-Knopf, da schauten wir alle nicht hin, hielten uns an den Händen und Flügeln. Wir duckten uns weg. Au weia!

Danach

Schritt 1: Reaktionen

Als erstes schrieb M., ich sei eine Mutmacherin. Wir staunten. Wie schön. Aber Mutmacherin? Ich? Dann sagte H., sie möge meinen Mut und U. schrieb, sie fände mich mutig. Am nächsten Tag setzte P. Mut an die erste Stelle einer langen Aufzählung. Meine Coachin postete das Bild in ihren Instagram- und Facebook-Stories und fragte „Hast du dich schon einmal getraut, Menschen um Feedback zu bitten?“ und meine Freundin G. aus B. schrieb: „Dabei fällt mir sofort ein, dass ich Deinen Mut bewundere…“.

Schritt 2: Verdauen

Ich? Mutig? Das fand und finde ich kurios. Und trotz des Spruchs „Mehr Mut statt Mäh“ im Post hatte ich mich bis dahin nie als mutig erlebt und gesehen.

Niemals wäre mir MUT als Zuschreibung für mich selbst eingefallen.

Und nun sahen mich die anderen so? Mich? Mutig?

Mutig! Das macht mich stolz und froh. Aber da sind auch Zweifel. Große. Und eine in Fragezeichenfalten gelegte Stirn.

Nicht, dass ich meinen Freund:innen ihre Urteilskraft absprechen wollte oder ihnen nicht glaubte, aber innen, ganz tief in mir drin, da fühle ich mich nicht mutig.

Da sitzt die Kleine. Vom schwarzen Raben auf meiner Schulter oft überreagierend beschützt.

Schritt 3: Erkennen

Leute! Was von außen mutig aussieht ist für uns ein Prozess. 

Mut ist der eine klitzekleine Schritt, das Zentimeterchen, das nach der Angst kommt. 

Birgit Elke Ising

Die Angst sitzt immer davor. Vor dem Mut. Ich springe nicht leichtfüßig über sie hinweg und es ist auch keine Überwindung, mehr eine Verhandlung – im Hier und Jetzt, mit Groß und Klein und Flattertier.

Aber wenn wir uns erst einmal entschlossen haben, dann gibt’s kein Halten mehr, dann beginnt der freie Fall, weil wir schon das eine Zentimeterchen über den Klippenrand hinaus sind …

Wir haben übrigens immer einen Fallschirm dabei.
Der Fallschirm, das bin ich, die Große!

Birgit Ising mit Notebook
Wer schreibt hier eigentlich?

Hi, ich bin Birgit Elke Ising. Ex-Bank Managerin, Coachin, Autorin, Speakerin und (improvisierende) Schauspielerin. Ich bin Expertin für Transformationsunterstützung. Mit kreativen Coaching-, Theater- und Schreib-Techniken helfe ich dir aus der Schwere ins Handeln.
Mehr über mich erfährst du hier.

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Buch Eingefroren in der Zeit von Birgit Elke Ising

Eingefroren in der Zeit.
Ein guter Einstieg ins Thema Ahnentrauma. Du brauchst keine Vorkenntnisse.
Nur Lust auf Geschichten. Skurrile Geschichten.

Deep Shit, mit Humor und Leichtigkeit erzählt.

„Wütend, witzig, weise.“
(Sven Rohde, ehem. Vorstand Kriegsenkel e.V.)

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